Geist
Witz
Lesevergnügen




2004 gründet Wolfram Weimer
mit dem Ziel, ein Pendant zu
dem großen US-Magazin
in deutscher Sprache zu etablieren.
Zu diesem Zeitptunkt ist DAS MAGAZIN schon 80 Jahre alt.
Die einen nennen das Blatt "New Yorker des Ostens",
die anderen monatliche Wundertüte.

Die Feier zum 90. Geburtstag vom MAGAZIN fand am
1. November 2014 in Berlin statt.


Pierre Sanoussi-Bliss, Franziska Arnold und Hans Brückner gaben Amüsantes, Skurriles und Historisches aus Deutschlands ältester Unterhaltungszeitschrift als Trio vor dem begeisterten Publikum zum Besten,


Kirsten Fuchs und Stefan Schwarz, Schriftsteller und Kolumnisten vom MAGAZIN, lasen aus ihren Werken.

DAS MAGAZIN, gegründet 1924, erfindet sich immer wieder neu und hat mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus Journalismus und Literatur seit Jahrzehnten Erfolg.


Pürierte Lebensenergie

Es soll jeder nach seiner Fasson selig werden. Und deswegen sagte ich an jenem geselligen Abend, es freue mich zu hören, dass Mutter Dinkelkeks nach so vielen Jahren endlich cellulitäre Sättigung erreicht habe, auch wenn mir die Vorstellung eines Zustands, in dem ein Oberschenkel einfach keine weitere Cellulite mehr aufnehmen kann, also cellulitär gesättigt ist, wie etwas erscheinen wolle, für das die Vorstellungskraft nicht erfunden worden sei. Aber natürlich würde ich die Begeisterung, die Mutter Dinkelkeks jetzt ausstrahle, deutlich sehen, ergänzte ich zögernd, und so habe eben jeder seine kleinen Ziele im Leben, und wenn es auch nur das Ausschöpfen der Aufnahmekapazität des Oberschenkelunterhautfettgewebes sei. »Zelluläre Sättigung!«, korrigierte mich Vater Dinkelkeks. »Es geht um Ernährung, nicht um Oberschenkel!«
   »Grüne Smoothies«, flötete Mutter Dinkelkeks dazu. »Du ahnst nicht, wie vital ich mich fühle, seit ich grüne Smoothies zu mir nehme.«
   Vater Dinkelkeks ging an die Küchenfront und klopfte stolz auf einen Mixer. »700 €, dafür schafft er auch 35.000 Umdrehungen. Auf Salaten rumkauen, das war gestern. Wir machen jetzt Smoothies.« Vater Dinkelkeks erklärte, der Drehbumms sei nötig, um die Pflanzenfasern bis zur Zellstruktur hinunter aufzubrechen. Übrig bliebe nur noch die pure Lebensenergie zum Trinken.



   Respekt hob meine Augenbrauen. »35.000 Umdrehungen, mein lieber Mann. Da kannste die Holzkiste, in der deine Bio-Salate geliefert werden, ja gleich mitpürieren.«
   Vater Dinkelkeks hob lockend eine Selleriestange. »Soll ich dir einen machen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich zögernd, »ich bin ein bisschen vorsichtig mit lebensverlängernden Maßnahmen. Nachher ist die Zukunft doof, und ich lebe noch.«
   »Aber probieren musste mal, ich habe noch einen von heute früh. In meiner Tasche.« Vater Dinkelkeks lief zum Auto und holte die Aktentasche. Die Plastikflasche mit der grünen Pampe war aufgedunsen, ja, hatte beinahe Kugelform angenommen, und ich glaubte mich zu erinnern, dass es in diesem Universum keine grundlos geblähten Dinge gibt. Möglicherweise, so begann es mich nun zu dünken und deuchen, hatten sich schon Bakterien an der befreiten Lebensenergie gütlich getan und das Fläschchen mit den allerbedenklichsten Gasen vollgerülpst. Denn: Stinkende Gase produzieren, das machen Bakterien ja für ihr Leben gern. So hatte Vater Dinkelkeks also den Verschluss noch nicht einmal zur Hälfte aufgeschraubt, als ihm ein Überdruck im Monstertruckreifenformat die Arbeit abnahm.
   Ich habe schon viel gesehen in Küchen. Ich habe schon erlebt, wie mein Vater brennendes Frittierfett zu löschen versuchte und danach keine Augenbrauen mehr hatte. Ich habe meine Großmutter überquellende Einkochgläser mit Sauerkirschen in kaltes Wasser tauchen sehen, wonach die Sauerkirschen quasi wieder am Baum hingen, so weit wie die flogen. Aber ein explodierender Smoothie ist noch mal was anderes. Ein Hauch von Bürgerkrieg lag in der Luft. Vater Dinkelkeks sah aus wie ein Masern-Schaubild in Grün, und die Küche war bereit für eine neue Küche. Überall troff pure Lebenskraft von den Wänden.
   »Ich hätte jetzt keinen Bock auf Renovieren«, sagte ich, »aber ihr seid ja vital genug dafür.«

Stefan Schwarz



Robert Siodmak, später Filmregisseur, gründet 1924 die Monatszeitschrift.
Das Blatt erscheint mit der Oktoberausgabe. Das handliche Pocket-Format orientiert sich an amerikanischen Vorbildern und bringt den Begriff magazine erstmals nach Deutschland. Der abwechslungsreiche Themenmix widmet sich Film, Tanz, Literatur, Mode, Fotografie. Mit einer Auflage von über 200.000 Exemplaren ist es die mit Abstand erfolgreichste Monats-Illustrierte dieser Jahre. Ständiger Gast auf den Titelblättern: ein kleiner Engel; er wird zum ersten Emblem der Zeitschrift.

Marlene Dietrich, damals noch unbekannte Schauspielerin, arbeitet mehrmals als Fotomodell für die Zeitschrift. Im Mai 1929 posiert sie als Covergirl. Nach ihrem Durchbruch mit dem Film "Der blaue Engel" verlässt sie Deutschland - aus Hollywood schickt sie auch später noch Korrespondenzen.
Zur 100. Ausgabe im März 1932 gratulieren prominente Leser wie Henny Porten, Hans Albers, Heinrich Mann, Max Pechstein, Fritz Lang, Roda Roda, Lilian Harvey, Claire Waldoff.

Während der Nazizeit gibt sich sich die Zeitschrift zunächst demonstrativ unpolitisch, erst nach und nach wird sie in die NS-Propaganda eingebunden und im Juli 1941 ihr Erscheinen eingestellt. "Aus kriegsbedingten Gründen", wie es in einer Erklärung heißt. Es gelte, "Menschen und Material für andere kriegswichtige Zwecke freizumachen"; Mitbegründer F.W. Koebner wird Ende 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen.
1949 versucht er eine Neuauflage, im Juli erscheint die erste Nummer. Die netten Mädchen auf den Covern sind wieder dabei und auch der kleine Engel als Maskottchen. Doch so sehr sich die Redaktion auch bemüht - Witz und Glamour der ersten Jahre bleiben unerreicht. Nach 13 Ausgaben gibt Koebner auf.

Genau vor 60 Jahren erscheint 1954 in der DDR ab Januar DAS MAGAZIN wieder. Bertolt Brecht soll den Titel ins Gespräch gebracht haben. Rückgriffe auf das historische Vorbild der 20er Jahre sind erkennbar, die Zeitschrift erscheint im typischen A5-Format, bewegt sich auf unterhaltsame Weise zwischen Kultur- und Beziehungsthemen und setzt erfolgreich auf Illustration.
Von 1958 bis 1991 gestaltet Werner Klemke 423 Cover; auf allen taucht ein kleiner Kater - mal mehr, mal weniger versteckt - auf, manchmal sieht man von ihm nur ein Ohr. Das Tier wird zum Maskottchen des Blattes.
1959 übernimmt Hilde Eisler die Chefredaktion und prägt bis 1979 das Blatt als vergnügliches journalistisch-literarisches Journal. Die Auflage steigt auf über 500.000 Exemplare. Das Aktbild, seit den 20er Jahren feste Rubrik im Blatt, trägt zur großen Popularität bei.

Auf dem gesamtdeutschen Pressemarkt behauptet sich DAS MAGAZIN, Gruner & Jahr übernimmt 1991 das Blatt, mehrere Verlagswechsel und Profilierungsansätze folgen.
Heute erscheint es als etabliertes anregendes Forum für Sinnsucher und Gedankenspieler im Eigenverlag, profiliert sich als ungewöhnliche Kulturzeitschrift, die eine neue Autoren- und Lesergeneration entdeckt und liebt - in einer Auflage von 60.000 Exemplaren.


Ignoranz der Gegenwart



Zwei Weltkriege und ein Mauerfall, jede Menge sonstige runde Geburtstage, und der Dampfkochtopf wird auch schon 300 Jahre alt:
2014 ist ein Marathon-Erinnerungsjahr, und alles will gefeiert sein.
Das Bewusstsein für Gegenwart oder gar Zukunftsentwürfe findet in der raumgreifenden Memorialkultur kaum Platz

»Es war einmal« - der 200. Geburtstag der Grimm’schen »Hausmärchen« liegt erst zwei Jahre zurück - ist zur beliebtesten Form der Erzählung geworden. Die gegenwärtige Mentalität ist mit Wendungen wie »Damals war nicht alles schlecht« oder »Weißt du noch, früher« in der Vergangenheit verhaftet. Wir sind in einer Schneekugel mit historischem Glitter eingeschlossen. Das wird im Super-Gedenkjahr 2014 besonders deutlich.
    Seit dem Fall der Mauer haben wir uns eingeigelt ins Erinnern. Der 25. Ehrentag dieses Ereignisses steht dieses Jahr an, aber nicht nur dieser. Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, vor 75 Jahren der Zweite. Dicht drängen sich weitere Erinnerungstage aneinander: 300 Jahre Dampfkochtopf und Bachkantate »Mein Herze schwimmt im Blut«. 200 Jahre politische Neuordnung Europas im Wiener Kongress. Das »Wort zum Sonntag« verbreitet seit 60 Jahren Gottes Botschaft in der TV-Welt, »Brigitte« seit ebenso langer Zeit Mode, Klatsch und Rezepte. 100 Jahre Acht-Stunden-Tag, Rosamunde Pilcher wird 90, Brigitte Bardot 80, das künstliche Kortison 70. Die Pixie-Bücher feiern 60 Jahre Lesespaß auf einem Quadratdezimeter. Fußgänger haben seit 50 Jahren Vortritt auf dem Zebrastreifen, und Playmobil lässt seit 40 Jahren seine Plastikritter und -indianer über den Ladentisch galoppieren.



   Shakespeare (450. Geburtstag) und die Sonette, Schabowski und der Zettel: Es wird extrem eng, wenn das Jahr im Umfang auf 365 Tage beschränkt bleibt, sich die Jubeltage aber summieren. Jedenfalls lassen sich die nächsten Jubiläen an zehn Fingern abzählen, und nach dem Gedenken ist vor dem Gedenken. »Seinsvergessenheit« hatte Philosoph Martin Heidegger - er hat heuer wie Hitler 125. Geburtstag - dem Menschen attestiert. So hochgestochen muss man es nicht formulieren, aber der Hang zur Ignoranz des augenblicklichen Lebens haftet dieser Verankerung an Jahrestagen schon an. Etwas stimmt nicht, wenn sich die Gesellschaft nur noch historisch orientiert. Das ist ähnlich weitsichtig wie Autofahren mit stetem Blick in den Rückspiegel. Es ist, als ob man im Urlaub nur die früheren Reisen im Kopf hat, auf dem Berg oder im Tal an die Kletterpartie von gestern denkt, Papa beim Plantschen nur von Hiddensee in den Achtzigern schwärmt und Mama vom Camping in der Champagne. »Weißt du noch, letztes Jahr der strahlende Himmel...?« Und dann gehen sie sich gemeinsam eine nachgestellte Schlacht ansehen.
   Vor 75 Jahren feierte der Film »Vom Winde verweht« Premiere. Wäre das doch das Motto heutiger Geschichtspolitik und -kultur. Zwischen Landfrauentipps »von damals« und der zigsten Retrowelle in Mode und Design fühlt sich die Gegenwart an wie Leben im Abspann eines Films. Die Historienromane boomen, wie »Wanderhuren«-Epos und »Hebammen«-Saga beweisen. Comic-Star Joann Sfar hat sich mit »Herakles«, »Odysseus« und »Ödipus« aufs Tradierte verlegt, der Kostümfilm erlebt mit Serien wie »Spartacus« und den Blockbustern »Pompeii«, »Noah« und »300« seine Wiedererweckung. Ridley Scotts Bibelstoff »Exodus« kommt 2014 noch ins Kino, an einer neuen Version von »Ben Hur« wird gefeilt. Ist die Gegenwart so schlimm, und, wenn ja, warum schraubt man dann nicht daran herum und denkt über Zukunftsentwürfe nach?
    In der Langstrecken-Tour-de-Force der Jubiläen fällt die Lutherdekade besonders beeindruckend aus. Seit sechs Jahren schon bereitet man sich auf den 500. Reformationsgeburtstag vor, der 2017 ansteht. Zehn Jahre Gedenken, da bleibt fürs Heute keine Lebensluft. So ist es auch kein Wunder, dass Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Luthers ( --> !) Sterbehaus in Eisleben anlässlich der Wiedereröffnung einen »Meilenstein in der Geschichte« des Landes nannte. Eine solche Rück-wärtsbezogenheit ist in der sachsen-anhaltinischen Kulturpolitik Programm, Geld steckt sie vorrangig in restaurative Projekte. Aktueller Kunst entzieht sie die Mittel. Auch im ausufernden Denkmalbau zeigt sich pure Zukunftslosigkeit. Seit Jahren wird um die Konzeptionen der Freiheits- und Einheitsdenkmäler in Berlin und Leipzig gestritten, und sie werden nicht mehr rechtzeitig fürs Jubiläum im Herbst fertig, an welches sie erinnern sollen. Ob Heinrich Heine in Düsseldorf (2012) oder Ludwig van Beethoven, Richard Wagner und Ernst Thälmann in Leipzig (2013 und 2014), Friedrich Engels in Wuppertal und Jan Hus in Konstanz (2015): Memoriale sprießen wie Pilze aus dem Nährboden der Erinnerungskultur. Hinzu kommen Wiederaufbauideen. In Dresden die Frauenkirche und anderes, in Berlin soll das Stadtschloss wieder entstehen - nachdem der Palast der Republik als Artefakt der DDR weichen musste. Brüche und Zäsuren lassen sich aber nicht kitten, auch nicht durch Rekonstruktion. Von Harmoniesucht bewegte Architektur führt zur Disneyisierung. Ein nachgebildetes Gebäude steht für nichts anderes als das Nachahmen, die Lust an der Restauration.

    »Es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert«, fasste Friedrich Nietzsche sein Credo für einen angemessenen Umgang mit der Geschichte zusammen. »Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Thiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte.«
    Das heißt ja nicht, alles Vergangene links liegen zu lassen. Statt Abfeiern von Jubiläen und Hechten von einem zum nächsten, wäre Aufklärung über die Ereignisse angebracht. Doch »nicht das Bedürfnis nach rationaler Kritik speist gegenwärtig die Hinwendung zur Geschichte, sondern das Verlangen nach Identität«, formulierte Historiker Jürgen Kocka kurz vor der 89er-Weltenwende sein bis heute gültiges Urteil. »Erinnerung ist gewünscht, Erklärung viel weniger.« Offene Fragen: Wie beschreiben, entwerfen wir uns selbst, und wo wollen wir eigentlich hin? Wie beschränkt vom Verharren in der Geschichte ist unser Gesichtsfeld?
    Dienten Jubeljahre in früheren Jahrhunderten der Kirche als Mittel, um dann und wann den Sündenablass zu ermöglichen, so entfalten Jubiläen ihre heilige Kraft heute besonders im Profanen. Geschichtsprojektionen frischen an jedem Ehrentag neu das zeitgenössische Selbstbewusstsein auf, wirken erbaulich und als Rückversicherung, auf dem richtigen Pfad der Geschichte zu wandeln. Doch wohin eigentlich? Angesichts der Jubiläenfülle verschwimmt die Gegenwart samt ihrer Verhältnisse. Bei aller Fi-xiertheit auf die Sternstunden des Zeitstrahls verliert sich das Bewusstsein, dass dieser glücklicherweise noch nicht abgeschlossen ist. Es gibt noch Zukunft, und wie immer diese auch ausfal-len mag, sie besteht nicht nur aus Jubiläen.
    »Geschichte wird gemacht«, sangen die Fehlfarben, der diesjährige 225. Jahrestag der Französischen Revolution macht das deutlich. Und wenn der Philosoph Ludwig Wittgenstein - er hat 125. Geburtstag - erklärte: »Den Begriff des Vergangenen lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert«, möchte man ergänzen: Und seine Zukunft begreift er, indem er seine Möglichkeiten auslotet.

Tobias Prüwer



Unerfindlich, warum Wikipedia die 90-jährige Geschichte vom MAGAZIN verschweigt.
Dort steht in klassischer Wessi-Manier geschrieben:
Das Magazin ist eine Zeitschrift mit den Schwerpunkten Kultur und Lebensart, die hauptsächlich in Ostdeutschland bekannt ist.
Das Magazin ist eine der wenigen DDR-Zeitschriften, die auch nach der Wiedervereinigung noch erscheinen. Die Zeitschrift erschien seit 1954 monatlich im DDR-Verlag Das Neue Berlin, seit den 60er Jahren dann im Berliner Verlag ...

Bei der Konkurrenz ("Presssestimmen") ist jedenfalls zu lesen:

  • die kulturell anspruchsvolle Wundertüte
  • der Ton ist leicht, die elegante Frechheit der berühmten Vorgänger klingt an
  • verbreitet erstaunlich gute Laune
  • die Zeitschrift wirkt einerseits zeitlos, andererseits fast schon wieder postmodern
  • trifft den Geist der Zeit
  • die lesenswerteste Zeitschrift




















































Splitter aus dem Novemberheft 2014