»Sie heiraten heutzutage nicht mal mehr«, sagte sie.
»Das ist dir doch sicher auch aufgefallen.
Es ist vorbei.
Die Kinder werden nicht mehr getauft,
das heißt,
es gibt kein Taufregister mehr.
Unsere Zeit wird genauso dunkel werden wie die Römerzeit«
»Gene statt Genealogie?«


Fundstück Old Filth


Großer Anwalt, Richter und ein bisschen ein Schlaumeier. Von ihm soll der Ausdruck FILTH kommen - Failed in London Try Hong Kong

Wer - wie der Finder der Fundstücke - in London (das dem irdischen Nullmeridian sehr nahe ist, der durch die Sternwarte von Greenwich verläuft) studierte und als Referendar dort Praktikum ableistete - kennt Inner Temple und andere Anwaltskammerorte - und das von Grund auf völlig unterschiedliche deutsche und anglikanische Rechtssystem.

Jane Gardam, 87, die literarische Entdeckung der Saison 2016 - nur wenigen Lesern außerhalb Englands ein Begriff. Höhepunkt ihres Werkes: Die Trilogie über eine schwierige Ehe und den geheimnisvollen Liebhaber der Ehefrau.
Die Trilogie erzählt das Leben des Kronanwalts Edward Feathers und berichtet über dessen Frau Betty und über Terry Veneering, einen Anwalt, dem Edward in tiefer Feindschaft verbunden ist.
"Ein untadeliger Mann", "Eine treue Frau" und "Letzte Freunde" sind Bücher, nach denen sich jeder sehnt, der gern liest. Die Handlung nimmt einen gleich gefangen, der Wunsch, immer weiterlesen zu wollen, begleitet die Lektüre. Und wir verstehen die - manchmal schwierig (Brexit!) zu verstehende britische Nation wieder ein bisschen besser.

Das Buch erzählt, wie Edward Feathers zwischen den Weltkriegen in Malaysia geboren wird, als es noch zum britischen Empire gehört und Malaya heißt, wie er ohne Mutter aufwächst und als Halbwaise nach England geschickt wird, um dort Schulbildung und Erziehung zu erhalten. Gardam erzählt Feathers' Lebensweg und seinen Aufstieg zum Kronanwalt in Hongkong als psychologischen Abenteuerroman. Mühelos überblendet sie Schreckliches in Komisches und wechselt virtuos zwischen den Zeitebenen, ohne den Leser zu verwirren. Die Brüchigkeit von Feathers' Leben spiegelt sich in der Struktur des Romans. Das ist beeindruckend gemacht, aber auch mit so leichter Hand, dass es beim Lesen nebensächlich wird.

Es beginnt in Hongkong, wo Betty Edwards Heiratsantrag erhält, als Brief, geschrieben auf Kanzleipapier. "Sie küsste den Brief und steckte ihn sich in die Bluse."
Das Buch ist nicht etwa als Fortsetzung konzipiert, sondern als eine Erweiterung der Geschichte angelegt: Szenen aus dem ersten Roman bekommen durch Ereignisse, von denen der Leser erst im zweiten (oder sogar dritten) Buch erfährt, plötzlich einen anderen Sinn; Handlungsfäden werden unerwartet miteinander verknüpft. Man muss sich die Welt von Edward, Betty und Veneering als ein großes Puzzlebild vorstellen, in das Jane Gardam mit jedem Kapitel neue Teile einfügt. Gardams Romane sind Abbild der britischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen und dem Ende des Empires.

Die beiden verfeindeten Kronanwälte sind kurz nacheinander beerdigt, wir finden uns in dem Dörfchen in Dorset wieder, wo sie ihren Lebensabend verbringen wollten. Die beiden stammten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Edward der distinguierte Herr, dessen Vater Kolonialbeamter war. Veneering Spross eines russischen Zirkustänzers, die Mutter Kohlenhändlerin, eine einfache und resolute Person, die sich und den auf der Durchreise mit dem Zirkus verunglückten Russen durchbringt, der Sohn ihr Augapfel, für den sie alles tut.
Jetzt erst verstehen wir Veneerings Auftreten und seine besondere Art von Humor und Robustheit, Unikat aus Draufgängertum und individueller Lebensart.
Eine Geschichte greift in die andere. Wir verstehen nun, wie alles miteinander zusammenhängt und alle zu einander stehen, was sie gegenseitig anzog, und was sie voneinander abgestoßen hat.
Wir erleben dieses amüsante England in seiner Skurrilität und der Besonderheit der einzelnen Figuren. Mrs. Dulcie, Fiscal-Smith usw, alle Personen und Geschehnisse von Beginn nochmals aufgerollt, wir befinden uns im 21. Jahrhundert, allenthalben macht sich der Wandel der Zeiten bemerkbar. Handy und 9/11 haben ihre Spuren hinterlassen, die Welt hat sich gedreht.
Jane Gardam: eine unnachahmlich großartige Erzählerin, die ihresgleichen sucht ...



das wunderbar faszinierende Buch der 1928 geborenenen Jane Gardam, Roman von 2004 über einen Richter, das interessante und Deutschen wenig bekannte Seiten der Geschichte Großbritanniens unserer Tage schildert. Abolut lesenswert! Mit spitzer Feder und Spitzweg-Humor!
"Voll cool" das Nachwort, wo sie vielen Leuten ihren Dank ausspricht und erzählt, von wem sie alles was gelernt und abgeschaut hat.
Dort der schöne Satz, entwaffnend: Alle historischen Fehler habe ich selbst gemacht

Wussten Sie, was "Raj-Waisen" sind (denen Gardam ihr Buch widmet)?
Geboren in Malaya als Kind britischer Kolonialbeamten in Indien, mit vier oder fünf Jahren aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, um zurück ins Empire gebracht zu werden. Dort sollen sie englische Erziehung genießen und vor grassierenden Krankheiten geschützt werden. Jane Gardams Mann ist auch ein solcher Raj-Waise - im Nachwort: „der Filth nur in einer einzigen Hinsicht ähnelt: er hat am Strand von Freetown siebenunddreißig Bananen gegessen.“

Warum eigentlich Dorset? Das wusste niemand.


Figuren:

Sir Edward J. Feathers

Betty

Anwalt in Honkong


Terry Veneering

Kowloon und zurück


Christopher

Claire

Kota Kinakulu


Missionarin Auntie May

Port Swettenham (Klang)


Mrs Feathers

District Officer Alistair Feathers

Amme und Ada

Wales


Babs

Sir

Patrick Ingoldby

Lancashire


Ingoldbys

Garbutt, Mrs Kate Dings

Isobel Ingoldby

Jack Ingoldby

Billy Cumberledge

Ma Didds

Oils

Bolton


Hilda, Muriel

Oxford


Chloe

Worksop


Teesside, Yarm, Old Judges' Lodging






Fiscal-Smith

M11


Vather Tansy

Oliver

Vanessa







Buttermilchmädchen

Albert Loss

Colombo


Queen Mary







Was von außen unzweifelhaft aussieht wie der nostalgische Rautenpulli von Opa, an Spitzendeckchen und beherrschte Anständigkeit erinnert, entpuppt sich als gekonnter Roman eines Lebens, beherrscht von den Wechselfällen unserer Geschichte.



Urteile und Urteilsbegründungen hatten ihn berühmt gemacht, aber wie schrieb man einfach so, ohne ein Urteil? Fakten darlegen war einfach. Aber wie sollte er entscheiden, was Fakten waren? Er wurde ganz klein vor der riesigen, fundamentalen Last, sich selbst mit den Augen eines anderen zu sehen.




The "Old Filth" trilogy should be read by anyone who has ever been interested
in how we become who we are – especially if that person becomes a lawyer.



Zum Blogeintrag der kongenialen Übersetzerin