Flemmings Blindenschule
in Chemnitz
und
Euthanasie




Antwort des Anstaltsarztes:
Über das weitere Schicksal der verlegten Kinder
ist hier nichts bekannt.



Am 8. April 1923 wird Ludwig als 9. Kind der Eheleute R. in Zwickau geboren, auf dem Foto in der Bildmitte sitzt er auf dem Schoß seines Vaters.
Als er acht Jahre alt ist, geben ihn seine Eltern in die 'Pflege- und Heilanstalt' Chemnitz-Altendorf. Zu seiner großen Freude darf Ludwig in den Ferien heim, er ist lebhaft und genießt das Familienleben, die kleinen Geschwister müssen auf Ludwig, was ihnen nicht unbedingt Freude bereitet, aufpassen. Seine Mutter spricht Ludwig mit "Frau Müller" an, seinen Vater als Papa.
Wenn er unbeobachtet ist, träumt er, sein Oberkörper geht dabei ununterbrochen vor und zurück, er murmelt ständig "Hia-Hurlebär".
Wenn die Ferien zu Ende gehen, steht Ludwig am Schlafzimmerfenster und sagt traurig: "Die Schienen gucken mich so an."
1940 erhält die Familie Mitteilung aus Grafeneck bei Münsingen, dass Ludwig verstorben sei. 40 lange Jahre forscht Vater R. vergeblich nach dem Schicksal seines Sohnes, nach 66 Jahren Gewissheit: das Personal der Tötungsanstalt Sonnenstein hat 1940 seinen Sohn Ludwig ermordet.



Er ist ein Opfer von insgesamt etwa 70.000 psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die die Nazis im Rahmen der "Aktion T4" 1940 und 1941 in sechs Tötungsanstalten vergasen lassen, eine davon ist Pirna-Sonnenstein unter Leitung des Arztes

Horst Schumann,
der 13.720 Patienten und über 1.000 KZ-Häftlinge tötet. Später experimentiert Schumann mit Sterilisierungen und Röntgenbestrahlungen an Juden in Auschwitz, setzt sich nach Afrika ab, wird 1966 ausgeliefert. 1970 stellt das Landgericht Frankfurt, wo Schumann bis 1983 unbehelligt lebt und dann stirbt, in einem skandalumwitterten Mordprozess das Verfahren gegen den Angeklagten wegen Verhandlungsunfähigkeit (hoher Blutdruck) vorläufig ein.

Jeder Chemnitzer kennt die 'Flemming-Klinik.'





Hinter dem Großkrankenhaus, getrennt durch die Fritz-Wagner-Siedlung, liegt das Gelände der SFZ, die "Berufsbildungswerk-für-Blinde-und-Sehbehinderte-Chemnitz-gGmbH", die blinde, seh-behinderte und mehrfachbehinderte junge Menschen in Erstausbildung in anerkannten Berufen nach dem Berufsbildungsgesetz ausbildet.



Emanuel Gottlieb Flemming, geboren 1772 in Jüterbog, studiert Evangelische Theologie in Leipzig, wird Privatlehrer und lernt in Berlin Johann August Zeune kennen, in dessen Blindenanstalt er unterrichtet. Flemming eröffnet 1809 in Dresden zusammen mit Ehefrau Wilhelmine die Königliche Blindenanstalt als private Einrichtung, unterstützt von König Friedrich August und einer Loge. 1811 zieht die Anstalt in ein eigenes Haus mit Garten um, das ihm der sächsische Minister Peter Karl Wilhelm von Hohenthal zur Verfügung stellt.
Als Flemming 1818 stirbt, führt Ludewig Steckling, der seine Witwe heiratet, die Anstalt weiter, die 1825 mit der Schütze’schen Blindenanstalt fusioniert, 1830 verstaatlicht wird und 1905, als die Umwandlung von einer dezentral in eine zentralisiert organisierte Landesblindenanstalt ansteht, mit sämtlichen Außenstellen nach Chemnitz-Altendorf umzieht.



In fünf Jahren entsteht mit einem Kostenaufwand von 4,5 Millionen Mark auf dem Gelände ein für damalige Verhältnisse moderner Sozialkomplex im Pavillonstil mit 40 Gebäuden, bestimmt für 250 Blinde und 500 Schwachsinnige. Aufgabe der von einander getrennten Doppelanstalt ist es, "die Zöglinge durch Erziehung und Unterricht soweit zu fördern, dass sie nach ihrer Entlassung im Stande sind, sich selbst durchs Leben zu finden."



Neben dem Angebot angemessener Schul- und Berufsausbildung entstehen Ausbildungswerkstätten für Korb- und Bürstenmacher, Klavierstimmer, Telefonisten, eine Industrie- und Schreibmaschinenwerkstatt.
Das Gut auf 67 ha Land besitzt Molkerei, Kesselhaus, Gärtnerei, Felder und Wald.
Die Einrichtung ergänzt später ein Kindergarten, ein Alten- und Pflegeheim und ein Friedhof, sie ist eine der größten zusammenhängenden Jugendstil-Anlagen in Deutschland.



Zusammen mit der "Landeserziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder" (zuvor Großhennersdorf) bildet sie die Landesanstalt Chemnitz.





Als am 29. August 1905 in der Turnhalle der neu errichteten "Königlichen Landeserziehungsanstalt zu Chemnitz-Altendorf" sächsische und städtische Prominenz den Sozialkomplex einweiht, bewertet die lokalen Presse das Ereignis als ein leuchtendes Kennzeichen unseres auf tätige Nächstenliebe gerichteten Zeitgeistes und als einen die Zeiten überdauernden Beweis dafür, wie in unserem Vaterlande die städtischen Verwaltungen und Regierungen wetteifern, Leiden zu lindern und Not zu mildern, soweit dies menschliche Kraft vermag.



In der Nähe entstehen 1909 und 1927 Wohn- und Arbeitsräume für erblindete Mädchen und Frauen, 1915 bis 1922 wird hier ein Reservelazarett für 50 Kriegserblindete geführt.



Die Anstalt unterrichtet die Schwachsinnigen (vergleichbar stark lernbehinderten Menschen) im Lesen, Schreiben, Rechnen und in Religion. Eine große Rolle spielen Sport, besonders Turnen als körperliche Ertüchtigung, und musische Bildung; Mädchen erhalten zusätzlich eine hauswirtschaftliche Ausbildung. Bei den Jungen legt man Wert auf die Förderung der handwerklichen Geschicklichkeit. Garten- und Feldarbeit, Beziehen von Rohrstühlen sowie Korbmacher-, Schuhmacher- und Buchbinderei-Ausbildung stehen auf dem Lehrplan.





Die Zöglinge wohnen während der gesamten Schul- und Ausbildungszeit (Aufnahme ab dem fünften Lebensjahr) in der Anstalt, wo sie Schwester und Pfleger betreuen. Die Vermittlung in Arbeitstellen der Landwirtschaft, Gärtnerei und in Fabriken ist erfolgreich.
Bis in die Dreißigerjahre werden Extraklassen für Schwerhörige, eine Enzephalitiker-("Kopfgrippe"), eine Epileptikerabteilung und eine Sprachheilschule eingerichtet.
In den Jahren 1924 bis 1929 verzeichnet die Landesanstalt einen bedeutenden Aufschwung in ihrer Entwicklung, was sich in Erhöhung der Kostensätze, Anschaffung medizinischer Geräte, Gewährung von sechswöchigen Erholungsurlauben an der Ostsee für die Zöglinge sowie in Bereitstellung von Fahrtkosten und einer starken Erhöhung der Zöglingszahl zeigt.
Mit der Weltwirtschaftskrise findet dieses Hoch ein jähes Ende.



Und in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen drastische Veränderungen in der Landeserziehungsanstalt.

Erziehung im NS-Staat

Im Sommer 1933 verfasst Anstaltsarzt Dr. Lange eine Denkschrift, die Reformvorschläge für die Schwachsinnigenerziehung in hiesiger Anstalt enthält.
Der Kommentar des Anstaltsdirektors von Sonnenstein Prof. Nitsche verdeutlicht die neuen Schwerpunkte (Nitsche ist später einer der Hauptverantwortlichen der Euthanasie-Aktion - im Dresdner Ärzteprozess 1947 wird er zum Tode verurteilt und hingerichtet):

Methoden
Jede unnötige Belastung mit Wissensstoff ist zu vermeiden. Zugleich ist ... landwirtschaftliche und gärtnerische Ausbildung soll mehr bevorzugt, handwerkliche Ausbildung eingeschränkt werden. Zweifellos werden sich ... erhebliche Einsparungen ergeben.
Beschränkung des Fortbildungsunterrichts auf diejenigen, die geistig überhaupt noch zu fördern sind.
Es soll Vorsorge getroffen werden, daß die Fürsorge in für dieselbe ungeeigneten Fällen rechtzeitig also frühzeitig genug abgebrochen wird...
Straffe Beschränkung des Anstaltsaufenthaltes auf die praktisch unbedingt nötige Dauer, unverzügliche Entlassung, sobald Ungeeignetheit des Aufgenommenen erkannt ist.
Neubildung einer Erziehungsabteilung für nichtbildungsfähige Schwachsinnige; hier keinerlei Lehrtätigkeit, sondern lediglich erzieherische Beeinflussung und später Arbeitsausbildung.


Die Lehrer der Schwachsinnigenabteilung versuchen zunächst, ihren bisherigen Bildungszielen gerecht zu werden.
Ein Ministerialrat beklagt z. B. 1934 den Unverstand und die Unbelehrbarkeit derer, die die Kranken betreuen:
Ich habe diese Beobachtung nirgends krasser finden können als kürzlich bei einer Besichtigung in Chemnitz-Altendorf, wo der betreffende Schuldirektor einfach nicht belehrbar war, ... daß diese Kinder nicht bildungsfähig sind.


Dann aber:

In der Landeserziehungsanstalt Chemnitz ist das Kindermaterial der Abteilung für Schwachsinnige streng gesichtet worden. Kinder, die keine schulischen Erfolge erwarten lassen, werden nicht beschult. Die Lehrerschaft begrüßt diese Maßnahme, muß sie doch so nicht unnötigen Ballast durch den Unterricht schleppen...
Lehrerschaft der Schwachsinnigenabteilung, 15.2.1934

Leider hat sich durch eingehende Prüfung ... der Kinder ... sehr oft herausgestellt, ... daß eine schulische und manuelle Förderung nicht möglich ist. Diese Zöglinge mußten dann dem Elternhaus wieder zur Verfügung gestellt oder in die hiesige Pflegeabteilung übernommen werden.
Geschäftsbericht 1935

Die Nationalsozialistische Erziehung wurde im Gegensatz zur mangelhaften Ausbildung nicht vernachlässigt. Zum Beispiel wurden die Gemeinschaftsfeiern an politischen Gedenk- und Feiertagen im Unterricht behandelt und ausgewertet.
Aber der Erziehungsgedanke des neuen Staates muß auch bei uns sichtlich mehr gefördert werden ... Unsere Zöglinge müssen zu fleißigen, willigen, gehorsamen, äußerst genügsamen Menschen erzogen werden... In der SA und im Arbeitsdienst sind ehemalige Zöglinge. Sie werden gelobt um jener oben genannten Eigenschaften willen, die ihnen in der Anstalt anerzogen wurden und deren Übung die Schule des vergangenen Systems versäumte... Es geht leider nicht, daß unsere Jungen in die Hitlerjugend und die Mädel in den Bund "Deutscher Mädel" eintreten ... Dafür muß innerhalb der Anstalt Ersatz geschaffen werden.
stellv. Leiter der Schwachsinnigenabteilung, 22.9.1933

In einem Sonderlager sollen die "Besten" besonders gefördert und auf die Aufnahme in die Hitlerjugend und den Arbeitsdienst vorbereitet werden.

Antwortschreiben des Staatsministers:

... daß der Vorschlag, ein Sonderlager zu errichten, aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt wird. ... Ausdrücklich muß ich jedoch verbieten:
1.) daß ... ein besonderer Aufwand betrieben und besondere Kosten entstehen und dass
2.) ein Teil der Anstaltsinsassen eine einheitliche Kleidung erhält, die auch nur entfernt Ähnlichkeit mit den reichsgesetzlich geschützten Parteiuniformen, den Uniformen der Reichswehr oder des Arbeitsdienstes hat.
Desgleichen verbiete ich Einladungen von Hitlerjugendführern oder Hitlerjungens und von BDM-Führerinnen oder BDM-Angehörigen zu irgendwelchen Veranstaltungen der Schwachsinnigen-Abteilungen von Chemnitz-Altendorf.
Der Staatsminister des Innern, 28.3.1935

Die Folgen:
Sparmaßnahmen und Geldmangel in allen Bereichen, Hungerprogramme, Probleme bei der Vermittlung entlassener Zöglinge, rückläufige Aufnahmezahlen, Einsparungen beim Personal und Entlassungen, Mangel an Pflegepersonal, Kompensierung durch Zöglingsarbeit, Auflösung und Zusammenlegung von Arbeitsabteilungen, Entlassung der Zöglinge nach Hause oder in Heime, Nutzung der Schulgebäuden für den BDM, als Unterkunft für Sudetenflüchtlinge, zeitweise für eine Flakabteilung, Verlegung geisteskranker Kinder in die Landeserziehungsanstalt nach Auflösung der Pflegeabteilungen in Leipzig/Dösen und Hochweitzschen, Sonderabteilungen geistig schwerstbehinderter Jugendlicher, Aufnahme von 285 erwachsenen Geisteskranken aus Leipzig/Dösen, Anstieg der Anzahl bildungsunfähiger Zöglinge, Wandel der öffentlichen Meinung über Sinn der Bildung Schwachsinniger (Ablehnung und Geldverschwendung).



Die NS-Zeit beseitigt den Bereich der Schwachsinnigen, von den Nazis brutal und menschenverachtend als Ballastexistenzen eingestuft. Im Zuge der verbrecherischen "Euthanasieaktion T4" führt man systematisch die körperlichen Widerstandsfähigkeit durch unablässige Reduzierung der Lebensmittelrationen, durch Verabreichung von Medikamenten in überhöhter Dosierung zurück und vergast die Zöglinge schließlich in der Vernichtungsanstalt Pirna-Sonnenstein.
Aufgrund 688 eingegangener Meldebögen aus der Landeserziehungsanstalt verlegt die Pflegeabteilung ihre Patienten im Mai 1940 und bereitet ihre Ermordung vor.
Zur Tarnung transportiert man sie zunächst in Zwischenanstalten (Arnsdorf, Waldheim, Großschweidnitz, Zschadraß) und erst von dort in die Sonder- alias Tötungsanstalten (Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein).



Nur etwa 25% der Patientenakten sind erhalten, es ist daher von einer weitaus höheren Opferzahl auszugehen. Die Angehörigen der Zöglinge informiert man erst nach Verlegung verschleiert und verfälscht. Sie bleiben im Ungewissen über das Schicksal ihres Familienmitgliedes.
Aus der Chemnitzer Anstalt werden nachweislich 398 Menschen, unter ihnen 243 Kinder und Jugendliche, ermordet, vergiftet mit Kohlenmonoxid in


Pirna-Sonnenstein.

Während des Zweiten Weltkrieges bringt man in den leergezogenen Gebäuden evakuierte Blinde und kriegsblinde Soldaten unter.

Trotz Zerstörung einzelner Gebäude im Zweiten Weltkrieg nimmt die Anstalt ihre Tätigkeit bereits 1945 wieder auf und entwickelt sich zu einer überregionalen Hauptausbildungsstätte für Blinde und Sehbehinderte, die um eine polytechnische Oberschule, einen Kindergarten und ein Angebot an Berufslehrgängen erweitert wird.
Auf dem ersten Blindenkongress in Berlin wird 1950 der Beschluss gefasst, in Chemnitz ein zentrales Blindeninstitut für die DDR einzurichten. Karl-Marx-Stadt wird Leiteinrichtung für die DDR, überdies entsteht ein Altersheim für Blinde.
1965 wird die Anstalt in Rehabilitationszentrum für Blinde Karl-Marx-Stadt umbenannt.
Seit der Wende führt die SFZ die Traditionen des Zentrums für Blinde und Sehbehinderte in Chemnitz-Altendorf erfolgreich fort.











Anläßlich des 100jährigen Bestehens des Rehabilitationszentrum 2005 dokumentieren die Bürokräfte des dritten Ausbildungsjahres Geschichte und Schicksal der Euthanasieopfer



Der Außenweg Ost E führt nodwärts zu Gedenken.

Gregor Torsten Kozik und Frank Maibier , Chemnitzer Künstler, erschaffen auf dem alten Friedhof einen Ort des Gedenkens, kein Denkmal im herkömmlichen Sinne, sondern einen Gedankengarten, der eindringlich Schmerz, Ohnmacht und Erkenntnis symbolisiert.
2007 wird das Universum der Erinnerung für die ermordeten Kinder eingeweiht, der Besucher geht von der Gedenkstele auf einem gepflasterten Weg zu einem begrünten Hügel, durch den ein bedrohlicher Tunnel aus Stahl führt, an dessen Ende: Stille.
Im Zetrum des Amphitheaters aus rotem Stein die hingeworfene 3,7 Tonnen schwere Metallkugel, deformiert, vernarbt. Man sieht es und man fühlt es.

Auf der Stele Zitate von Eltern auf der Suche nach ihren Kindern:

Mit einer Karte wurde mir mitgeteilt, dass meine Tochter nach der Landesanstalt Arnsdorf verlegt wurde. Warum ist dies geschehen? Was soll ich mir dabei denken?

Warum wird das Kind vom Elternort soweit weggeschafft, ohne dass die Eltern befragt werden?

Sie war doch so ein hübsches Mädchen, war nicht geisteskrank, sondern nur geistig und körperlich zurück.

Es geht nicht mit richtigen Dingen zu…