Jean-Claude Romand
der angebliche Arzt - ermordet Frau, Kinder und Eltern: 2021 frei

Dank des ungewohnten Alkohols schläft Florence endlich ein. Der Täter bleibt wach und schlägt seiner Frau am Morgen mit einem Nudelholz den Schädel ein.
Er bittet Tochter Caroline (7), sich auf ihr Bett zu legen, er holt den Karabiner, sie liegt auf dem Bauch und er schießt. Denn ruft er Sohn Antoine (5) und tut nochmal dassselbe.
Sein Vater inspiziert einen Lüftungsschacht - er schießt ihm zwei Kugeln in den Rücken, dann holt er seine Mutter, die die Schüsse nicht gehört hat und schießt sie in die Brust.

Romand legt Feuer, nimmt Schlaftabletten, stopft ein paar Kleider in die Spalte unter die Tür, will sich neben Florences Leiche legen, kann kaum etwas sehen, die Augen brennen. Er bekommt keine Luft mehr, schleppt sich zum Fenster, öffnet es. Die Feuerwehrmänner hören das Klappern der Fensterläden. Sie fahren die Leiter hoch, um zu Hilfe zu kommen. Er verliert das Bewusstsein.

9. Januar 1993 in Prévessin an der französisch-schweizerischen Grenze.

Im Haus Spuren der Tragödie.
Jean-Claude Romand leugnet, etwas mit den Morden zu tun zu haben.
Was kann einen erfolgreichen Wissenschaftler und glücklichen Familienvater dazu bringen, ein solch abscheuliches Verbrechen zu begehen - gegen Menschen, die ihm am nächsten stehen?
Der Unterschied zwischen Realität und äußerem Anschein ist meilenweit. In den 1970ern erschleicht er ein erfolgreiches Medizinstudium in Lyon und gibt vor, eine Forschungsstelle bei der WHO in Genf zu bekommen.
Jean-Claude lernt Florence Ladmiral kennen, sie lassen sich in Prévessin-Moëns an der französisch-schweizerischen Grenze nieder. Von dort aus ist es ein Katzensprung nach Genf. Sie etablieren sich in der Gemeinde, bekommen zwei wohlerzogene Kinder. Seine Eltern vertrauen ihm die Verwaltung ihrer Ersparnisse an, ebenso der Onkel, die Eltern Florences erlauben ihm, ihre Ersparnisse zu investieren.
Auf einer Lüge baut er weitere auf. Seine Bekannten erfahren, er habe angeblich Krebs. Natürlich sind sie traurig und besorgt. Keiner der befreundeten Ärzte in seinem Bekanntenkreis hat Grund, die Diagnose in Frage zu stellen. Warum sollte Jean-Claude bei einer solchen Sache lügen?

Jeden Morgen steht er auf, verabschiedet sich von der Familie und steigt ins Auto, um zur Arbeit zu fahren.
Seine Eltern bekommen ein Bild des WHO-Büros, das sie an die Wand hängen; ihr Sohn hat sogar ein Kreuz an die Stelle gemalt, an der sich sein Büro befindet. Jean-Claude und Florence treffen sich mit Bekannten, die ebenfalls Ärzte sind, aber in diesen Situationen spricht man nicht viel über die Arbeit. Der Bluff hält sich 18 Jahre in den sozialen Kontakten.
Die eine Lüge hängt von der anderen ab. Das Herumfahren und der Besuch feudaler Kneipen mit der Freundin kostet Geld, und genau dorthin fließt das anvertraute Kapital.
Er türmt eine weitere Lüge auf, beginnt eine Affäre mit einer Kinderpsychologin, die er in Paris kennenlernt. Nicht einmal sie durchschaut seinen Bluff. Sie ist von Jean-Claude beeindruckt und bittet ihn, Geld zu investieren. Jean-Claude kauft sich einen neuen BMW und zahlte den Rest auf ein geheimes Bankkonto ein.
Weihnachten 1992 - Romand ist 38 - da beginnen die Dinge zu kippen. Corrine und der Schwiegervater wollen ihr Geld zurück.
Romand begeht die fünf Morde - ob er auch den Schwiegervater ermordet hat - ungewiss, er versucht auch Corinne zu erdrosseln, sie wehrt sich erfolgeich.
Die Justiz verurteilt ihn zur lebenslangen Haft und 22 Jahren Sicherungsverwahrung im Zentralgefängnis von Saint-Maur (Indre).

Im Sommer 2019, nach 26 Jahren Entlassung auf Bewährung, Benediktiner nehmen den Mörder im Kloster Abtei Notre-Dame de Fontgombault im Tal der Creuse auf, er trägt eine elektronische Fußfessel. Pater Pateau: Er hoffe, dass reuige Menschen hier Zuflucht finden: "Wir wollen ihm, während wir uns die Ziele der Justiz zu eigen machen, die Möglichkeit geben, sich vor Gott zu stellen, seinem letzten Richter am Tor zur Ewigkeit".

In dem Juwel der Romanik, das in den 1970ern den französischen Milizionär und Kriegsverbrecher Paul Touvier beherbergt, wird einer der unergründlichsten Mörder der französischen Kriminalgeschichte ein neues Leben in Stille und Gebet beginnen. Mit 65 wird er sehr fromm, begeistert sich für gregorianische Gesänge und restauriert Tonarchive. Er teilt den Alltag mit 70 Mönchen, die landwirtschaftliche Arbeiten auf dem Anwesen verrichten. Reisen sowie Redefreiheit sind eingeschränkt oder verboten.
Der Mörder hat nicht viel zu tun, er muss in seinem 20*2 m großen Zimmer beten oder streift durch die Anlage rund um die Abtei.
2021 kommt er frei. Seinen Wohnort und Alltag umgeben Schweigen und Geheimhaltung, die Justiz gesteht ihm "das Recht auf Vergessen" zu. Den Familien der Opfer schuldet er 557.064 € Schadensersatz - seine monatliche Rente beträgt gut 800 €.

Absolut lesenswertes Buch: Carrère schildert seine Beziehung zu dem Mörder, die Gerichtsverhandlung und alle Details...







Der Film "Ein perfektes Leben" (L'advesaire) aus dem Jahr 2002 in französisch-schweizerisch-spanischer Koproduktion beruht auf Carrères Buch.
Nach außen hin lebt Jean-Marc Faure seit 15 Jahren ein perfektes Leben: Er ist mit der schönen Apothekerin Christine verheiratet und hat zwei Kinder. Er gilt als angesehener Kardiologe und arbeitet bei der WHO in Genf sowie in Dijon. In Wirklichkeit ist Faures Leben konstruiert: Aufgrund einer Erkrankung hat er die Prüfungen im zweiten Studienjahr der Medizin nie abgelegt, besuchte jedoch wie alle anderen weiterhin die Seminare. Da er als einer der Intelligentesten des Jahrgangs galt, nahm jeder an, dass er auch sein Studium abgeschlossen hat. Auch Faures Studienfreund Luc stellt sein Leben nicht infrage. Faures Alltag jedoch besteht im Verlassen des Hauses und anschließendem Umherfahren und Zeitvertreiben. Geld konnte er lange Zeit vorweisen, da er seinen Schwiegervater zu einem Anlagegeschäft überredet hat, das angeblich hohe Gewinne bringen soll. Als dieser für ein Hochzeitsgeschenk von dem investierten Geld 100.000 Francs abheben will, vertröstet Faure ihn mehrfach und schiebt sogar eine plötzliche Dienstreise nach Oslo vor, um Zeit zu gewinnen. Am Ende gesteht er ihm im gerade im Umbau befindlichen Haus, dass er das Geld nicht hat. Durch eine Unachtsamkeit stürzt sein Schwiegervater kurz darauf zu Tode. Geld erhält Faure in dieser Zeit, indem er sich vom Konto seiner Eltern bedient.

Kurz darauf ziehen Faure und seine Familie in ein neues Haus auf dem Land. Vor seinem Schwager behauptet Faure, dass das angelegte Geld vollständig vorhanden sei und bietet an, die Geldgeschäfte des verstorbenen Schwiegervaters in seine Hände zu legen. Der Schwager lehnt ab, weil er von Geldanlagen nichts versteht. Faures Freund Rémi trennt sich von seiner Frau Marianne und Faure beginnt ein Verhältnis mit ihr und macht ihr teure Geschenke. Er gesteht Luc den Seitensprung, obwohl er ihm eigentlich von seinem abgebrochenen Studium berichten will, und der ist empört. Kurze Zeit später trennt sich Marianne von Faure, weil er ihr zu depressiv ist. Seine Lage wird immer ernster und er rennt eines Tages wie irr durch den Wald, stürzt und verletzt sich. Er kehrt zu Christine zurück und behauptet, er habe sich mit einem Auto der WHO mehrfach überschlagen und komme gerade aus dem Krankenhaus. Als sie seine Geschichte nicht hinterfragt und stattdessen seine blutenden Wunden versorgen will, bricht er weinend zusammen.

Marianne bittet ihn eines Tages, eine höhere Summe Geld für ihn anzulegen, wie er es auch beim Geld seines Schwiegervaters gemacht hat. Er lehnt ab, doch lässt sie nicht locker. Von Mariannes Geld kauft Faure seiner Familie einen neuen, teuren Wagen. Als Marianne das Geld ausgezahlt haben will, vertröstet er sie auf Januar. Bald beginnt es in Faures Ehe zu kriseln: In der Schule der Kinder hat der Direktor eine Affäre mit einer Lehrerin begonnen. Weil er die Schule in den Augen der Eltern schlecht führt, wird unter den Eltern über seine Entlassung abgestimmt. Auch Faure stimmt für die Entlassung, behauptet vor Christine jedoch, sich als einziger für ihn eingesetzt zu haben. Christine startet daraufhin eine Petition für den Direktor und erfährt erst später von Luc, dass ihr Mann für die Entlassung war. Sie erkennt, dass er sie belogen hat. Zudem erscheint die Frau eines WHO-Mitarbeiters bei ihr und meint, dass Faure nicht im Personalcomputer der WHO stehe. Das Weihnachtsfest vergeht in eisiger Stimmung zwischen dem depressiven Faure und seiner Frau. Seine Eltern wiederum teilen ihm mit, dass ihr Konto laut Aussage der Bank im Minus steht. Faure verspricht, sich um den „Fehler“ zu kümmern. Er kauft Munition und einen Schalldämpfer.
Christine konfrontiert ihn schließlich mit ihren Befürchtungen. Sie glaubt, er habe seine Arbeit verloren, und klagt ihn an, sie belogen zu haben. Faure gibt an, manchmal nicht zu wissen, was er sage, weicht ihr ansonsten aber aus. Als sie schläft, erschlägt er sie. Am nächsten Morgen erschießt er seine beiden Kinder und sucht anschließend seine Eltern auf, die er ebenfalls umbringt. Am Abend holt er Marianne ab, mit der er angeblich zur Feier eines Medizin-Professors eingeladen ist. Nach mehrfachem Verfahren halten sie auf offener Strecke. Faure versucht, sie zu erwürgen, lässt jedoch von ihr ab, als sie ihn ihrer Kinder Willen um ihr Leben bittet. Er klagt sie an, Schuld an allem zu sein. Faure kehrt in sein Haus zurück, wo er schließlich Feuer legt. Er kann schwer verletzt aus dem brennenden Haus gerettet werden, die Leichen seiner Frau und der beiden Kinder werden abtransportiert.

ARTE strahlt den Film 2016 aus.



Das neueste Buch Carrères hat Lücken. Sie sind das Ergebnis eines Prozesses, den seine Ex-Frau Hélène Devynck, mit der er eine Tochter hat, gewinnt. Sei warf ihrem Mann vor, eine vertragliche Vereinbarung gebrochen zu haben, wo festgelegt ist, dass er nie wieder ohne ihr Einverständnis über sie schreiben darf. Zuvor habe er das berühmtermaßen getan. Etwa in "Alles ist wahr" (2015), wenn er über einen gemeinsamen Urlaub in Sri Lanka berichtet, während dem der Tsunami passiert. Auch sonst habe er oft ihre Ideen, ihren Schmerz, ihre Sorgen, ihre Sexualität, ihre Worte in seinen Werken benutzt. Während ihrer Beziehung sei sie damit auch einverstanden gewesen. Heute, nach der Trennung, wolle sie das nicht mehr. Insbesondere wollte sie nicht in YOGA erscheinen, denn hier gehe es um die Verwischung der Grenzen zwischen Fiktion und Lügen. Die Fiktion wolle eine Wahrheit darstellen. Die Lüge aber wolle Wahrheit vertuschen.
Seit März 2020 sind sie formal geschieden. Devynck wirft Carrère vor, zu lügen.

Ihr Exmann schlage seinen Lesern einen Wahrheitspakt vor. Er behaupte, nicht zu lügen, und nur hier und da aus freien Stücken etwas auszulassen oder zu fiktionalisieren, um seine Nächsten zu schützen. Diese Behauptung ermögliche ihm, eine rechtliche Einschränkung in Selbstbeweihräucherung umzuwandeln und zugleich auch noch den Goncourt-Juroren, die lieber Romane auszeichnen als Lebensbeichten, sehr kräftig zuzuzwinkern. Was sie, seine ehemalige Frau, angehe, habe er es allerdings an Rücksicht missen lassen.
Bereits vor Erscheinen des Buchs deutet der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder in einer Radiosendung an, dass es eine rechtliche Auseinandersetzung gegeben habe. Dass es aus juristischen Gründen umgeschrieben werden musste, er glaube, mehr dürfe er nicht sagen. Nur so viel: Carrère habe viel streichen müssen, und das merke man dem Buch leider an.
Neues Deutschland schreibt: Emmanuel Carrère, der Mann, der in seinen Büchern niemals lügen wollte und vorhatte, für ewig nur über wahre, also tatsächlich geschehene Dinge zu schreiben, hat es getan: Aber in seinem neuen Buch hat er gelogen. Er musste es tun, aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes seiner Exfrau Hélène Devynck.
Ach Gottchen, könnte man meinen, es ist doch sowieso alles nur Literatur. Ja, aber es geht um Carrère, der seit über 20 Jahren autobiografisch schreibt.
2018 beinahe Prxix Goncourt. Da dieser aber nur an fiktionale Literatur gehen darf, geht Carrère leer aus. Doppelt bestraft. Einmal von der Exfrau, dann von der Jury.
Als er 2015 beginnt, dieses Buch zu schreiben, ist er voller Hoffnung. Der Alltag floss leicht dahin, er lebte mit seiner Frau ein schönes Leben auf den Latifundien - aber dann ging es abwärts. Erst kam das islamistische Attentat auf die Redaktion von »Charlie Hebdo«, bei dem die Terroristen einen seiner Freunde töten. Dann streckte ihn eine bipolare Erkrankung nieder, in deren Folge Depressionen am Lebensfaden nagten. Seine Frau verließ ihn mit viel Mediengetöse, er kam in die geschlossene Psychiatrie. Anschließend lernt er auf der griechischen Insel Leros eine Gruppe jugendlicher Geflüchteter kennen. Als er sich wieder ins Leben einordnet, stirbt sein langjähriger Verleger. Er braucht schlussendlich drei Jahre, um wieder ein halbwegs normales Leben zu führen.
Seine Exfrau teilt mit, dass Carrère in Wahrheit nicht Monate auf Leros verbracht habe, sondern nur wenige Tage, und zwar mit ihr zusammen. Und dass er nicht nach seinem Krankenhausaufenthalt dort war, sondern vor seiner Diagnose.
Es liest sich gut, wie man so schön sagt. Selbst wenn man nichts über die wahren Hintergründe weiß oder nur sehr wenig. Oder wenn man Yoga versteht wie der junge Mann aus dem ersten Kapitel, der auf die Frage, woran er während des zehntägigen Yoga-Schweigekurses gedacht hat, »Titten, Titten« stottert. Ist das verstörend? Ja!